Stellungnahme des Verbands Deutscher Privatschulverbände e.V. zur Befragung des BMG zum Konzeptentwurf über die zukünftige Ausgestaltung der Berufe in der Physiotherapie
Im Schreiben vom 03. August 2022 haben wir darum gebeten, Präzisierungen zu dem vom BMG vorgelegten Konzeptentwurf vom 28. Juli 2022 vorzunehmen und Widersprüchliches aufzuklären, um die Verbände sachgerecht und konstruktiv an der Beantwortung des neuerlichen Fragenkataloges beteiligen zu können. Da hier bis heute keine schriftliche Antwort erfolgt ist, sehen wir uns als VDP – wie angekündigt – außer Stande, den vorliegenden Fragenkatalog zu beantworten. Nachfolgend nehmen wir daher nur zu Punkt 1 Stellung und formulieren unsere grundsätzliche Ablehnung des vom BMG skizzierten Modells der zukünftigen Ausbildung in der Physiotherapie:
Bereits im Sommer 2021 wurden im Rahmen des Konsultationsverfahrens die Argumente für eine Voll- oder Teilakademisierung der Physiotherapieausbildung ausführlich erörtert. Der VDP, die überwiegende Mehrheit der angehörten Verbände und die nachfolgend konsultierten Bundesländer lehnten eine Vollakademisierung der Physiotherapieausbildung ab. Der Konzeptentwurf sieht jetzt aber vor, den Berufszugang in die Physiotherapie zukünftig allein über „eine rein hochschulische Ausbildung“ zu ermöglichen. Unmissverständlich entspräche dies einem Modell der Vollakademisierung. Eine Teilakademisierung ist bisher als Modell diskutiert worden, bei dem sich junge Menschen entweder für eine berufsfachschulische Ausbildung entscheiden oder sich in einem primärqualifizierenden oder ausbildungs- bzw. berufsbegleitenden Studium qualifizieren können. Mit dem Vorschlag für einen rein hochschulischen Zugang verabschiedet sich das vorgelegte Konzept vom politischen Ziel, die berufsfachschulische Ausbildung in der Physiotherapie zu stärken und parallel die berufsbegleitende Teilakademisierung voranzubringen. Wir lehnen im Sinne der Ausbildungsattraktivität, der Versorgungssicherheit und der Ausbildungschancen für viele junge Menschen eine Vollakademisierung der Physiotherapieausbildung ab.
Die im Konzeptentwurf als Teilakademisierung dargestellte Zweiteilung ist keine. Der im jetzigen MPHG stehende zweite Beruf, Masseur/in und Medizinischer/n Bademeister/in, soll nach dem Entwurf aufgewertet als eine Assistenz neben dem rein akademisch ausgebildeten Physiotherapeuten tätig sein. Das entspricht nicht dem im Konzeptentwurf benannten Modell einer Teilakademisierung, sondern ist de Facto eine geplante Vollakademisierung des Berufsbildes der/des Physiotherapeut/in.
Wir sind alarmiert. Wir fordern ausdrücklich, dass beide Berufe in der physikalischen Therapie, der Masseur und medizinische Bademeister sowie der Physiotherapeut in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit und Kompetenz als berufsfachschulische Ausbildungen erhalten bleiben und wie politisch seit vielen Jahren angekündigt attraktiv reformiert werden. Daneben können zusätzliche Studienkapazitäten für akademische qualifizierte Physiotherapeuten für herausgehobene Aufgaben in Forschung, Wissenschaft und Lehre aufgebaut werden, um das Berufsfeld insgesamt zu stärken.
Die Argumente für eine Teilakademisierung der Physiotherapie sind vielfältig und von zahlreichen berufs- und gesundheitspolitischen Akteuren in den vergangenen Jahren vorgebracht worden. Im Folgenden führen wir die Wesentlichen auf:
- Der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung sieht eine starke berufliche Bildung vor, die allen Jugendlichen Zugang zu einer hochwertigen Berufsausbildung ermöglichen will. Für Jugendliche ist der vorgelegte Konzeptentwurf ein fatales Signal, denn sieht er die Abschaffung eines attraktiven Ausbildungsberufes für junge Menschen vor, die mit einem mittleren Schulabschluss eine Berufstätigkeit als Physiotherapeut beginnen wollen.
- Um dem Fachkräftemangel in den Therapieberufen konsequent begegnen zu können, dürfen keine neuen Hürden für den Berufszugang aufgebaut werden. Die Physiotherapie ist seit Jahren unter den zehn Berufen mit dem größten Fachkräftemangel gelistet. In 2022 waren 12.060 Stellen als unbesetzt gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein (vgl. IW-Kurzbericht Nr. 67, August 2022). Der Gesellschaft gehen die Therapeuten aus. Die Lücken in der Versorgungsstruktur und Fachkräftesicherung sind bereits jetzt schon gravierend. Ein rein hochschulischer Berufszugang würde weiter für eine Verknappung an Fachkräften sorgen. Eine Vollakademisierung ist weder in der Lage, den damit verbundenen Wegfall der berufsschulischen Physiotherapieausbildung zu kompensieren noch den wachsenden Bedarf an Fachkräften sicherzustellen. Es wäre unverantwortlich und es besteht kein Grund dafür statt einer Teilakademisierung allein voll auf eine Vollakademisierung zu setzen. Zahlreiche Fachkräfte, die aktuell als gut ausgebildete Therapeutinnen und Therapeuten am Patienten tätig sind, wären bei einer Vollakademisierung vom Berufszugang ausgeschlossen gewesen. Ein negatives Signal an die mehr als 300.000 beruflich tätigen Therapeutinnen und Therapeuten ohne Hochschulabschluss.
- Entgegen der politischen Intention vermindert dieser Reformansatz nach dem jetzt vorliegenden Entwurf die Attraktivität der Ausbildung. Bewusst sprechen wir nicht von steigenden Qualifikationsanforderungen, denn die langjährige Erfahrung der Physiotherapieschulen belegt: Die spätere Eignung eines Bewerbers als Therapeut zu arbeiten, lässt sich nicht am Schulabschluss, mit dem die Ausbildung begonnen wird, festmachen. Diese Sichtweise des BMG, die der vorgelegte Entwurf offenbart, ist dringend mit empirischen Fakten zu Ausbildungserfolg-, -zufriedenheit und späterer Erwerbsbiographie abzugleichen. Die Argumente des BMG, die diesen gravierenden Einschnitt im Berufszugang rechtfertigen würden, sind bisher nicht dargelegt oder diskutiert worden.
- Das deutsche Ausbildungsmodell in der Physiotherapie hat sich bewährt. Es genießt aufgrund seiner hohen Qualität international einen sehr guten Ruf. Aufgrund ihrer Ausbildungsqualität, einem flächendeckend vorhandenen Ausbildungsplatzangebot sowie dem Potential zur Modernisierung und Weiterentwicklung ist die berufsfachschulische Ausbildung die tragende Säule der Fachkräfteausbildung in der Physiotherapie. Dieses Ausbildungssystem hat in den vergangenen Jahrzehnten eindrücklich bewiesen, dass es sich an neue Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung und im Berufsfeld anpassen kann.
- Es ist kein Hochschulprivileg, Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung angehenden Therapeutinnen und Therapeuten zu vermitteln. Erweiterte Kompetenzen können in die berufsschulische Ausbildung integriert werden: Interprofessionalität, betriebswirtschaftliche Kenntnisse, evidenzbasiertes Lernen und wissenschaftliche Reflexionsfähigkeit.
- Es gibt seit Jahren ein hochschulisches Angebot an Therapiestudiengängen, welches sich in den vergangenen Jahren erweitert hat. Eine Abkehr der Bewerberinnen und Bewerber vom berufsfachschulischen Weg ist zugleich überhaupt nicht erkennbar. Es gibt schon jetzt zahlreiche Möglichkeiten, sich in den Therapieberufen parallel zu oder nach der Ausbildung akademisch zu qualifizieren. Die bereits jetzt in 75 ausbildungs- und berufsintegrierenden sowie ausbildungs- und berufsbegleitende Studiengängen in den Therapieberufen praktizierte Teilakademisierung bietet eine optimale Verzahnung der praktischen Kompetenzen der Berufsfachschule oder der Berufstätigkeit mit den wissenschaftlichen Kompetenzen der Hochschule. Die bewährten Studiengänge bedürften nicht einer grundlegenden Neuetablierung, sondern lediglich einem weiteren Ausbau.
- Die berufliche Bildung bietet ebenso wie die akademische Bildung attraktive berufliche Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten und ermöglicht den Weg in gehobene Fach- und Führungspositionen sowie in die unternehmerische Selbstständigkeit. Eine Teilakademisierung wird aktuell schon in der Pflegeausbildung erfolgreich umgesetzt. Sie gewährleistet den Fokus der Therapieberufe auf Wissenschaft und Forschung, eröffnet Weiterentwicklungspotentiale für Therapeutinnen und Therapeuten, baut auf eine grundständige und attraktive Berufsausbildung auf und schließt Interessierte nicht per se aufgrund ihres formalen Schulabschlusses aus.
Berlin, 25. August 2022