will ich kurz ausholen und einige Grundeigenschaf- ten von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz anhand einer Allegorie veranschaulichen. Der Pippi-Langstrumpf-Effekt Als Pippi eines Tages in die Villa Kunterbunt einzieht, sorgt sie für Unruhe in der beschaulichen Kleinstadt. Pippi ver- fügt nicht nur über übermenschliche Kräfte und erhebliche finanzielle Mittel. Vor allem macht sie die Dinge anders, als sie bisher gemacht wurden. Aussagen wie „Das macht man so nicht!“ oder „Das haben wir schon immer so gemacht!“ scheinen für Pippi nicht zu gelten. Sie bricht mit geltenden Regeln und Normen, verhält sich unangepasst, erprobt neue Wege und unkonventionelle Lösungen. Pippi steht für Lebensfreude, Kreativität und Buntheit, auch für Chaos, Rebellion und Anarchie. Unvermeidlich gerät Pippi in Konflikt mit ihrer Umwelt, insbesondere mit Autoritäten. Davon lässt sich Pippi aller- dings nicht stören, was sie sich dank ihrer enormen Kraft und ihrer unerschöpflichen finanziellen Möglichkeiten auch leisten kann. Pippi macht sich die Welt, widdewidde, wie sie ihr gefällt. Pippi stellt Selbstverständlichkeiten in Fra- ge, die bis zu ihrem Erscheinen gar nicht als hinterfragbar wahrgenommen wurden. Bitte schauen Sie ein zweites Mal auf den Text im Kasten oben. Sie können an jeder Stelle das Wort „Pippi“ durch „die Digitalisierung“ oder durch „die KI“ ersetzen. Probieren Sie es einmal, mit einem Stift oder im Kopf! Die KI stellt uns vor alte Fragen Künstliche Intelligenz verstärkt einen Effekt, den wir schon in der bisherigen Digitalisierung beobachten konnten: Die KI ist wie eine freche Göre, die ungefragt vor der Tür bzw. schon mitten im Haus steht und uns vor Fragen stellt, die ans Eingemachte gehen. Hier sind einige Fragen, die ich aus Diskussionen um Schule und KI in 2023 notiert habe: » „Wieso muss ich etwas lernen, was Maschinen besser können?“ » „Weshalb müssen wir uns zum Lernen weiterhin alle zu vorgegebenen Zeiten an vorgegebenen Orten treffen?“ » „Warum ist die menschliche Lehrkraft wichtig?“ » „Welche Formen des Lernens und Lehrens sind zukunftsgerecht?“ » „Wie gestalten wir Prüfungen?“ » „Wie verändern sich die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen? Gibt es eine neue Kulturtechnik?“ » „Welche Bildungsziele und Lerninhalte braucht es für ein gutes Leben? Was braucht ‚die Wirtschaft’?“ » „Was ist eigentlich ‚Intelligenz’?“ Lauter spannende Fragen! An dieser Stelle finde ich eine Perspektive besonders interessant: Es handelt sich an keinem Punkt davon um NEUE Fragen. Im Gegenteil! Man kann sich vorstellen, dass alle diese Fragen schon auf dem Tisch lagen, als unsere Gesellschaften vor Jahrhunderten Schule so erfan- den, wie sie heute immer noch konstituiert ist. Auch hier die Einladung: Lesen Sie diese Fragen noch einmal und überlegen Sie, inwieweit zum Beispiel Wilhelm von Humboldt schon 1809 die gleichen Fragen vor sich hatte, als er eine Neuausrichtung des Schulwesens beschrieb. Die digitale Transformation und die Künstliche Intelligenz stellen uns nicht nur vor NEUE Heraus- forderungen, sondern sie bringen auch ALTE Fragen auf die Agenda. Fragen, die wir uns teilweise immer wieder in neuen Konstellationen gestellt haben, aber auch Fragen, die so stark das „Selbstverständliche“, also das Selbstverständnis von Schule betreffen, dass wir sie kaum noch als gestaltbare Fragen wahrgenommen haben. Schule im Wandel Die digitale Transformation geht spätestens mit dem praktischen Nutzen der Künstlichen Intelli- genz ans Eingemachte. Es geht für die Bildung um existenzielle Fragen im Sinne von Themen, die die Grundlagen, die Ziele und das Wesen unserer Arbeit betreffen. Digitale Themen lassen sich nicht mehr als Spezialthema, als „Add-on“ in gesonderten Kreisen bearbeiten, sondern betreffen alle. Es geht um das Selbstverständnis der Institution Schule, um die Identität ihrer Mitglieder, um den Sinn ihrer Exis- tenz. Man könnte zuspitzen: „KI“ steht ein Stück weit für „Krise der Identität“. 18 Freie Bildung | Schule – Beruf – Gesellschaft